Die nationalsozialistische Judenpolitik war in enger Abstimmung mit den damaligen Zionistenführern bis circa 1939 auf eine weitgehende und organisierte Auswanderung der Juden aus dem Dritten Reich insbesondere nach Palästina ausgerichtet. Die Abwicklung dieser jüdischen Auswanderungsbewegung wurde ab 1933 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland gemeinsam mit den reichsdeutschen Staatsbehörden durchgeführt.
1933 lebten maximal 600.000 Juden im Deutschen Reich. Wären pro Jahr 100.000 Juden ausgewandert, wäre Deutschland innerhalb von nur sechs Jahren fast vollständig entjudet gewesen. Zum Vergleich: Etwa 150.000 Deutsche verlassen jährlich die Bundesrepublik Deutschland.
Für die Zionisten war eine Zukunft für Juden nur in einem eigenen Land, dem damaligen Palästina, denkbar. Allerdings war auch für sie die Idee, daß alle Juden Deutschland verlassen sollten, nicht vorstellbar. Sie wollten vor allem jüngere Juden für die Auswanderung gewinnen, die auch die schwere Arbeit in Palästina leisten konnten. Zur Förderung ihrer Idee hielten sie eine Zusammenarbeit zwischen der nationalsozialistischen Regierung und ihrer Organisation nicht nur für möglich, sondern für die einzig realistische Perspektive überhaupt. Und sie behielten mit ihrer Prognose recht. Im Laufe der Jahre kam es zu einer immer engeren und für die Juden, die nach Palästina auswandern wollten, überaus positiven Kooperation.
Den deutschen Institutionen lag daran, die Auswanderung so schnell wie möglich abzuwickeln. Wie bereits gesagt, fanden sich die jüdischen Gruppen und Organisationen erst nach einer gewissen Zeit bereit, aufgrund der Zeitumstände die Notwendigkeit einer Auswanderung einzusehen.
Die jüdische Auswanderung koordinierten neben der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ hauptsächlich drei jüdische Auswandererorganisationen, die zum Teil schon seit Beginn des Jahrhunderts in Berlin bestanden.[2]
Der Hilfsverein für deutsche Juden war zuständig für die Auswanderung in alle Länder mit Ausnahme Palästinas. Er unterhielt zahlreiche Korrespondenten im Ausland, die die Möglichkeiten von Einwanderung und Ansiedlung, bzw. Unterbringung deutscher Juden prüften und Kontakte mit den dortigen jüdischen Organisationen aufnahmen, um den Neueinwanderern die Eingewöhnung zu erleichtern.
Das Palästinaamt, eine Abteilung der „Jewish Agency for Palestine“, beschäftigte sich ausschließlich mit der „Alija“ – wörtlich: „Aufstieg“, gemeint ist der Aufstieg nach Jerusalem als Synonym für die Einwanderung nach Palästina. Seine „Kunden“ waren vor allem jüngere Juden, die für die schwere körperliche Arbeit, die eine Ansiedlung in Palästina mit sich brachte, geeignet waren.
Eine dritte Einrichtung war die Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge. Die 1917 geschaffene Zentralwohlfartsstelle der deutschen Juden half in erste Linie jüdischen Durchwanderern und Binnenwanderern und baute zu diesem Zweck die „Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge“ auf, die sich ab 1933 um die Auswanderung nichtdeutscher, vielfach staatenloser Juden kümmerte.
Die nationalsozialistische Regierung versuchte ihrerseits die Auswanderung der ihr unerwünschten jüdischen Bevölkerung weitgehend zu fördern. Es waren vor allem zwei Abkommen, die die Auswanderung staatlich regelten: die „Haavara“ und das „Rublee-Wohlthat-Abkommen“. Die Haavara galt von 1933 bis 1941 und betraf die Auswanderung nach Palästina. Dieses Abkommen wird inzwischen in der einschlägigen Literatur regelmäßig erwähnt. Der ehemalige Direktor der Haavara, Werner Feilchenfeld, gab 1972 eine eigene Broschüre darüber heraus.
Das Rublee-Wohlthat-Abkommen hingegen wird allgemein totgeschwiegen. Es betraf die Mehrzahl der auswandernden Juden, all jene, die nicht nach Palästina gingen, sondern in ein anderes europäisches oder überseeisches Land. Das waren ca. zwei Drittel aller Auswanderungen. Das Abkommen war nur acht Monate in Geltung, dann brach der Krieg aus und die geregelte Auswanderung fand ihr Ende. Das Abkommen verdeutlicht, daß die deutsche Regierung die „Vernichtung der Juden“ nicht beabsichtigte.
Von den deutschen Stellen war es – neben dem Reichswirtschaftsministerium – die SS und ihre Einrichtungen, die die jüdische Auswanderung unterstützten und förderten. In „Das schwarze Korps“, Ausgabe vom 26. September, heißt es:
„Im Rahmen seiner Weltanschauung hat der Nationalsozialismus nicht die Absicht, das jüdische Volk in irgendeiner Form anzugreifen. Die Anerkennung des Judentums als einer Rassegemeinschaft, die sich auf das Blut und nicht auf die Religion gründet, führt die deutsche Regierung dazu, die rassische Getrenntheit dieser Gemeinschaft ohne jede Einschränkung zu garantieren. Die Regierung selbst findet sich in völliger Übereinstimmung mit der großen geistigen Bewegung innerhalb des Judentums, dem sogenannten Zionismus, mit seiner Anerkennung der Solidarität des weltweiten Judentums und der Ablehnung jeglicher Überlegungen zur Anpassung. Auf dieser Grundlage unternimmt Deutschland Maßnahmen, die zukünftig bei der Behandlung des weltweiten jüdischen Problems sicherlich eine bedeutende Rolle spielen werden.“[3]
Die SS hatte sich von Anfang an darum bemüht, Einfluß auf die deutsche Judenpolitik zu nehmen. Sie empfahl die Förderung der jüdischen Massenauswanderung, warnte aber gleichzeitig davor, Druck auf diejenigen Juden auszuüben, die sich in erster Linie als deutsch, und dann erst als jüdisch empfanden. Man müsse erst einmal ein jüdisches Bewußtsein und jüdisches Selbstverständnis in ihnen wecken. Das sollte durch die Förderung jüdischer, kultureller Einrichtungen geschehen. Erst ein sich seiner Identität bewußt gewordener Jude würde auch bereit sein, Deutschland zu verlassen und in ein zukünftiges jüdisches Heimatland auszuwandern.[4]
Unter diesen Auspizien standen alle Förderungs- und Schutzmaßnahmen, die SS und Gestapo jüdischen Einrichtungen zuteil werden ließen. So seltsam es sich anhört, aber die Gestapo war damals die Adresse, an die sich viele Juden wandten, wenn ihnen von einer anderen deutschen Behörde eine Benachteiligung ins Haus stand oder sie sonst Hilfe brauchten. Als z. B. im Verlauf der sogenannten Kristallnacht, im November 1938, auch das jüdische Auswanderungsbüro in der Berliner Meinekestraße beschädigt wurde, war es die SS, die Mannschaften zum Aufräumen schickte und alles daransetzte, das Büro so schnell wie möglich wieder arbeitsfähig zu machen.[5]
Eine Art Propagandaschrift für die Auswanderung nach Palästina hatte schon 1934 Leopold Edler von Mildenstein, der spätere Judenreferent der SS, verfaßt. Mildenstein fuhr 1934 nach Palästina und blieb ein halbes Jahr dort. Sein Reisebericht unter dem Titel „Ein Nazi fährt nach Palästina“ erschien in mehreren Folgen in der Goebbels-Zeitschrift „Der Angriff“ (26. Sept. – 9. Okt. 1934). Der Bericht ist sehr lebendig und anschaulich geschrieben und gibt ein interessantes Bild der Zustände im englischen Mandatsgebiet und der politischen Strömungen in Palästina Anfang der dreißiger Jahre. Er ist noch heute lesenswert. Als Verfassername benutzte Mildenstein das Pseudonym „Lim“, die ersten drei Buchstaben seines Namens, auf hebräische Art von rechts nach links gelesen.
SS und Gestapo beteiligten sich an der Einrichtung und Finanzierung von Umschulungslagern, die inzwischen in ganz Deutschland von der Zionistischen Organisation angelegt worden waren. Hier sollten vor allem junge Juden landwirtschaftliche und handwerkliche Berufe erlernen und auf das völlig andere Leben in Palästina vorbereitet werden. Teilweise stellte die SS sogar Grund und Boden für die Errichtung solcher Lager zur Verfügung. Nicosia bringt in seinem Buch „Third Reich“ eine Karte mit dem Stand vom August 1936, auf der 40 solcher Einrichtungen verzeichnet sind, die sich über das ganze Reich erstrecken, vom äußersten Norden (Flensburg bzw. Gut Lobitten, Krs. Königsberg/Ostpr.) bis in den Süden, nahe der Schweizer Grenze (Gut Winkelhof).[6]
Auch in Österreich, der damaligen Ostmark, wurden nach dem staatlichen Anschluß solche Umschulungslager eingerichtet. Adolf Eichmann, der Leiter des Wiener „Hauptamtes für jüdische Auswanderung“, setzte sich persönlich dafür ein. Er förderte auch später die illegale Auswanderung zusammen mit dem Mossad tatkräftig. Gelegentlich eskortierten SS-Einheiten jüdische Auswanderergruppen über die Grenze und sorgten dafür, daß sie ungehindert passieren konnten. Hannah Arendt war der Meinung, daß seine Bemerkung vor dem Jerusalemer Tribunal im Jahr 1960, er habe Hunderttausende von jüdischen Leben gerettet, durchaus den Tatsachen entsprach, wenn sie auch im Gerichtssaal mit Hohngelächter quittiert worden sei.[7]
Hitler hatte die mangelnde Aufnahmebereitschaft anderer Staaten kritisiert. „Kein europäischer oder überseeischer Staat aber zeigte eine Neigung, Angehörige der für ihn unbrauchbare Berufe (Handel, Banken, Gewerbe, Unternehmer, Akademiker), in denen die Masse der deutschen Juden tätig war, aufzunehmen, sofern sie nicht eigenes Vermögen oder vermögende Verwandte nachweisen konnten. Auch die Versuche des Völkerbundes, diese Einstellung zu ändern, blieben erfolglos.“ Es „kehrten tausende der 1933 geflüchteten Juden im Laufe des Jahres 1934 nach Deutschland zurück, da sie […] nirgends eine Existenzbasis finden konnten.“[8]
Die europäischen Nachbarstaaten versuchten, die befürchtete Flüchtlingsflut abzuwenden: Bei der internationalen Konferenz von Évian im Juli 1938 erklärte sich keines der 32 teilnehmenden Länder zur Aufnahme der Juden bereit. Vielmehr protestierte die Schweiz, in die viele Juden aus Österreich flohen, gegen die „Verjudung” und drohte eine allgemeine Visumspflicht an.
Polen versuchte seinerseits Juden außer Landes zu schaffen.
Die Briten verweigerten den Juden während und unmittelbar nach dem Krieg die Einreise nach Palästina, wie die Beispiele der Struma und der Exodus (Schiff) veranschaulichen. Großbritannien wollte die Macht über Palästina nicht verlieren. Am 9. November 1938 wurde das MacDonald-Weißbuch veröffentlicht, das die judenfreundliche Balfour-Deklaration praktisch widerrief. Es schränkte sowohl die jüdische Einwanderung nach Palästina als auch die Möglichkeit, dort Land zu kaufen, substantiell ein.
Auch in Amerika war es für Juden äußerst schwer akzeptiert zu werden, wie das Beispiel der MS St. Louis zeigt.
Quellen
- aus Ingrid Weckert: Auswanderung der Juden aus dem Dritten Reich
- Der Hilfsverein wurde im Jahre 1901 gegründet, dessen Auswandererabteilung 1904 eingerichtet. 1917 entstand die Hauptstelle für jüdische Wandererfürsorge; das Palästinaamt der Zionistischen Vereinigung für Deutschland entwickelte sich Mitte der zwanziger Jahre.
- zit. nach: „Hitler und der Zionismus“ von, Francis R. Nicosia, Druffel 1989
- Reichsführer SS, Chef des Sicherheitsamtes: Lagebericht Mai/Juni 1934, Die Judenfrage; zit. in: Francis R. Nicosia (Hitler und der Zionismus. Das 3. Reich und die Palästina-Frage 1933-1939, Leoni 1989, S. 106
- Nicosia, S. 244
- Nicosia, S. 217. Nur in der englischen Originalausgabe; in der deutschen Übersetzung findet sich an dieser Stelle ein leeres Blatt.
- Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1965, S. 90, 91; Jon und David Kimche, Des Zornes und des Herzens wegen. Die illegale Wanderung eines Volkes, („The secret Roads“, dt.) Berlin 1956, S. 17, 30; für die von Kimche aufgestellte Behauptung eines Kopfgeldes, das auswandernde Juden zu leisten gehabt hätten, gibt es keinen Beweis.
- Hans Buchheim: „Die Auswanderung der Juden aus Deutschland zwischen 1930 und 1939“, in „Gutachten“, München 1956/57, Hrsg. Prof. Dr. Martin Broszat, Institut für Zeitgeschichte, München, Seite 82–83
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