Ob bei vielen Normalbürgern in der Vorkriegszeit der Eindruck bestand, einer Schreckensherrschaft ausgesetzt zu sein, läßt sich nicht aus der historisch dokumentierten Anzahl der Konzentrationslager und der darin inhaftierten Personen erschließen.« Mit diesem Urteil widerlegt der Frankfurter Soziopsychologe Fritz SÜLLWOLD einen verbreiteten Trugschluß unserer Gegenwart und stellt manches zu den Vorstellungen der Deutschen in der NS-Zeit richtig.
Er untersucht sorgfältig, was die deutschen Normalbürger während der Zeit des Nationalsozialismus auf den verschiedensten Bereichen dachten. Um ihre Einstellungen und Reaktionen zu ergründen, wurden qualifizierte Personen der Erlebnisgeneration befragt. Diese sollten aber nicht ihre eigenen Empfindungen zum besten geben, sondern aus distanzierter Sicht des »Zeitbeobachters« die subjektiven Eindrücke ihres persönlichen Umfeldes dokumentieren. So wurde ein wirklichkeitsnahes Meinungsbild gewonnen.
Danach waren in der Vorkriegszeit »fast alle« davon überzeugt, daß die Verminderung der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftliche Aufschwung ab 1933 der Beschäftigungspolitik der Regierung zu verdanken waren. Das Vertrauen in den Wert der Reichsmark wurde nur von 2 Prozent der Zeitbeobachter als gering wahrgenommen. Löhne und Preise, Sozialabgaben und Altersversorgung schienen angemessen. Die Fürsorge für Arme und Schwache wurde als zufriedenstellend gewertet.
Über die staatliche und kommunale Verwaltung sowie über Justiz und Polizei in der Vorkriegszeit der NS-Epoche existieren heute bei vielen Nachgeborenen Vorstellungen, die mit den Erinnerungen der Zeitgenossen jener Epoche nicht übereinstimmen«, stellt SÜLLWOLD fest. In Wirklichkeit hielt man die Beamten für korrekt und hilfsbereit. Der Eindruck, einer Schreckensherrschaft ausgesetzt zu sein, herrschte im allgemeinen nicht. Die meisten Bürger fühlten sich durch die Exekutive {»Die Polizei — dein Freund und Helfer«) ausreichend geschützt. Daß man auch bei Nacht sicher und ungefährdet durch die Straßen gehen konnte, wurde der Regierung hoch angerechnet. Die Justiz galt als korrekt und unabhängig, bei Verfahren mit politischem Hintergrund allerdings als opportunistisch — woran sich wohl bis heute nichts geändert hat.
Die Idee der Volksgemeinschaft war weitgehend Richtschnur, »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« kein leeres Wort, sondern praktiziertes Prinzip. Den sozialen Umgang prägten Rücksicht und Respekt. Der Jugendkult der Nationalsozialisten ging nicht mit einer Geringschätzung der Senioren einher. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern unterlagen verhältnismäßig strengen Moralvorstellungen: Beim Eintreten von Folgen vorehelichen Verkehrs wurde rechtzeitige Eheschließung erwartet. Die verhalten steuernde Hierarchie dieser Werte und Tugenden war aber nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern beruhte auf althergebrachten Traditionen. Das galt besonders für das deutsche Offizierskorps.
Das religiöse Leben und die Kirchen spielten im NS-All tag eine größere Rolle, als heute angenommen. Nach dem Empfinden der Zeitzeugen waren zwar viele, aber keineswegs alle Parteifunktionäre antikirchlich eingestellt. Tiefgreifende Differenzen und Konflikte zwischen Kirchen und Partei wurden in der Bevölkerung sehr oft wahrgenommen. Dennoch galt regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst nicht als Opposition gegen das Regime.
Politisch wurde das Versailler Diktat von 1919 als schreiendes Unrecht empfunden. Die Revisionspolitik HITLERS wurde begrüßt. Das Bemühen um Rückgewinnung verlorener deutscher Gebiete wurde von vielen als gerechtfertigt angesehen. Auf den Österreich-Anschluß und auf die Befreiung des Sudetenlandes reagierte man mehrheitlich »mit Freude und Stolz«. Die Drangsalierung und Unterdrückung der Volksdeutschen in der Tschechoslowakei und in Polen lösten »Empörung und Zorn« aus.
Bei Kriegsausbruch 1939 herrschte kein Hurrapatriotismus, sondern Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit überwogen. Nur eine Minderheit hatte Siegeszuversicht. Der offiziellen These, wonach der Krieg Deutschland aufgezwungen worden sei, wurde nur begrenzt Glauben geschenkt, doch waren nur ganz wenige der Meinung, der Krieg sei von der Reichsregierung planmäßig herbeigeführt worden. Der Wehrmachtbericht erschien im allgemeinen glaubwürdig, in der zweiten Kriegshälfte zunehmend weniger. Trotz strenger Strafen wurden die britischen Deutschland-Sendungen von vielen abgehört, doch geschah dies nicht selten im Bewußtsein, daß es sich um Propaganda zur Irreführung und Demoralisierung der Deutschen handle.
Für größte Überraschung sorgten die schnellen Siege im Polen-, im Frankreich- und im Balkanfeldzug:
Wenn eine Bevölkerung durch den Kriegsverlauf überrascht ist, weil sie zumindest nicht mit schnellen Erfolgen rechnete, kann die ursprüngliche Neigung zum Führen des Krieges nicht groß gewesen sein«, folgert SÜLLWOLD. »Kriegswilligkeit setzt meistens die Erwartung schneller und ungefährdeter militärischer Erfolge voraus.«
Die Besetzung Dänemarks und Norwegens wurde von 39 Prozent als Verteidigungsmaßnahme angesehen, um einem Angriff der Alliierten zuvorzukommen. Die Einbeziehung Hollands und Belgiens in den Westfeldzug wurde weniger als Teil eines Eroberungskrieges, sondern überwiegend als unvermeidlich betrachtet.
Auf den Beginn des Rußland-Feldzuges reagierte man mit Sorge wegen der unerwünschten Ausweitung des Krieges. Die Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad 1942 wurde als verheerende Katastrophe, nicht selten als Wendepunkt gewertet. Die Rückzugsbewegungen an der Ostfront deutete man als »Ende der deutschen Überlegenheit«, nicht wenige sahen darin den »sich abzeichnenden Weg in die allgemeine Niederlage«. Zwei Drittel der Bevölkerung waren der Überzeugung, »daß der Partisanenkrieg zu gnadenloser Härte zwang«. Für möglich hielt man, »daß durch falsche Behandlung der Zivilbevölkerung Feindseligkeit und Widerstand provoziert wurden«.
Der Kriegseintritt der USA wurde von zwei Dritteln als »schwerwiegend« beurteilt. Für eine informierte Minderheit war er die Bekennung eines bereits bestehenden Zustandes. Die sensationellen militärischen Erfolge der Japaner riefen vorübergehende Freude hervor. Die spätere Landung der Alliierten in Süditalien wurde nicht nur »als Ergebnis italienischer Unfähigkeit«, sondern auch »als ernsthafte Bedrohung Deutschlands« gedeutet. Der Abfall des Achsenpartners Italien war »erwartetes Verhalten eines unfähigen und unzuverlässigen Verbündeten«.
Einen bedeutenden Teil der Erlebniswelt nahm der anglo-amerikanische Luftkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung in Anspruch. Überwiegend war man der Meinung, daß es sich um gezielte Terrorangriffe handele, um die Moral der Bevölkerung zu brechen. Vielen war bewußt, daß sich die Bombenangriffe hauptsächlich gegen die Wohnviertel richteten. Nach den Beobachtungen von zwei Dritteln der Zeitzeugen rief der Bombenkrieg nur bei einigen Bürgern oder gar nicht den Wunsch nach »baldiger Kriegsbeendigung um jeden Preis« hervor, Haß- und Rachegefühle gegenüber Briten und Amerikanern hegten meist nur die unmittelbar Betroffenen, also die Ausgebombten.
Die Landung der Alliierten in der Normandie wurde in der Bevölkerung als »kriegsentscheidend« und als »Anfang vom Ende« eingestuft. Die Ardennenoffensive im Dezember 1944 war für einige die »Chance für einen separaten Waffenstillstand im Westen«. Vielen erschien sie als »Schwächung der Abwehrkraft im Osten«, und nicht wenige hielten sie für sinnlos. Die Ankündigung des Einsatzes von Geheimwaffen erweckte eine gewisse Hoffnung, galt aber auch häufig als bloße Propaganda. Der dann erfolgende Einsatz der V1 und V2 wurde als Beginn der Anwendung der angekündigten Wunderwaffen aufgefaßt. Man glaubte zwar nicht mehr an einen Sieg, hoffte aber, mit dieser neuen Waffe erträgliche Bedingungen für einen Waffenstillstand zu schaffen.
Das Attentat am 20. Juli 1944 erschien überwiegend als Versuch, durch Ausschaltung Hitlers den Krieg zu beenden. Die öffentlichen Friedensangebote der deutschen Seite nach dem Polen- und nach dem Frankreich-Feldzug waren der deutschen Bevölkerung nicht entgangen. Daß die Gegner darauf nicht eingingen, war für die meisten der »Beweis für den Kriegswillen der Alliierten«. Mit der Möglichkeit, daß Deutschland den Krieg verliere, rechneten größere Bevölkerungsteile schon seit dem Kriegs eintritt der USA und besonders seit Beginn der Rückzüge in Rußland. Endgültig verloren schien der Krieg nach der alliierten Landung in der Normandie. Diese Überzeugung steigerte sich nach dem feindlichen Überschreiten der Reichsgrenzen. Letzte Zweifel an der bevorstehenden Niederlage schwanden nach dem alliierten Überschreiten von Rhein und Oder.
Die Frage nach erwägenswerten Möglichkeiten, den Krieg zu beenden, nachdem dieser offenbar nicht mehr zu gewinnen war, beantworteten 52 Prozent der Zeitzeugen mit »Nein«. Haupthindernis war »die Kenntnis der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und die Angst, einem rücksichtslosen Gegner, insbesondere den Sowjets, völlig ausgeliefert zu sein«. Verbreitet war auch die Meinung, »daß es nach Ende der Kampfhandlungen nur noch schlimmer kommen könne, als es ohnehin schon war«. »Angst vor Rache für begangene Untaten« spielte kaum eine Rolle. Nicht nur von der Propaganda war die Hoffnung genährt, daß sich »der Gegensatz zwischen den Sowjets und den westlichen Alliierten sehr verschärfen würde, so daß die Deutschen, wenn sie lange genug aushielten, davon profitieren könnten«.
Im Unterschied zur Betrachtungsweise von heute standen die Juden nicht im Mittelpunkt normalbürgerlichen Interesses. Die jüdischen Mitbürger bildeten nur eine Minderheit von nicht einmal einem Prozent der Gesamtbevölkerung und waren außerdem ungleichmäßig über das Reichsgebiet verteilt. Nur wenige Normalbürger hatten persönliche Bekanntschaften und Beziehungen. Juden und jüdische Angelegenheiten wurden daher nur am Rande und bruchstückhaft wahrgenommen. Lediglich bei außergewöhnlichen Anlässen wie zum Beispiel nach den Ausschreitungen der berüchtigten Kristallnacht 1938, auf die man »mit Befremden, bedrückt und mit Sorge« reagierte, waren Juden Gegenstand von Gesprächen. Der amtliche Antisemitismus wurde allgemein abgelehnt, die judenfeindliche STREICHER-Zeitung »Der Stürmer« galt als »primitiv« (67 Prozent) und wurde von den meisten nicht einmal beachtet. Mit einem heute immer wieder beschworenen »Wegsehen« und einem moralischen Mangel der Deutschen hat dies nicht das geringste zu tun.
»In der zweiten Hälfte der Kriegszeit, in der, wie man heute weiß, die Drangsalierung und Verfolgung der Juden lebensgefährliche Ausmaße annahm, waren viele deutsche Normalbürger von existentiellen Problemen betroffen, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderten und sie geistig und emotional in höchstem Grad in Anspruch nahmen. Dazu gehörte die ständige Sorge und die Angst um Ehemänner, Söhne, Väter, Brüder und Freunde, die als Soldaten im militärischen Einsatz standen.«
Damit rückt SÜLLWOLD die subjektiven Verhältnisse zurecht. »Hinzu kamen vielfältige schwere Aufgaben, die an Stelle der zum Kriegsdienst eingezogenen Männer bewältigt werden mußten. In besonderem Maße belastend waren, …die immer zahlreicher werdenden Bombenangriffe, bei denen stets nicht nur mit dem Verlust von Haus oder Wohnung… gerechnet werden mußte, sondern auch mit schweren Verwundungen und dem Verlust des Lebens. Etliche Normalbürger lebten damals mühselig in Trümmerlandschaften. Derartige Rahmenbedingungen der Wahrnehmung von Juden und jüdischen Angelegenheiten in der Kriegszeit werden bei ahistorischer Betrachtungsweise immer wieder übersehen oder ausgeblendet.«