Es gibt seit langem eine Kontroverse darum, ob Karl Marx ein selbsthassender Jude war, der in seinem Essay „Zur Judenfrage“ den Antisemitismus förderte, wobei prominente Wissenschaftler sich auf beiden Seiten der Frage zu Wort melden.[1] Meiner Ansicht nach wird die Position, daß Marx ein Antisemit war, mit herausgesuchten Passagen aus seinen Schriften und seiner Korrespondenz und durch tendenziöse Interpretationen dieser Passagen begründet. Hier zeige ich, daß es der Zweck von Zur Judenfrage war, die jüdische Emanzipation im Deutschen Bund (1815 – 1866) zu fördern und dadurch den offiziellen Status der christlichen Religion zu untergraben, Ziele, die recht kompatibel damit waren, daß Marx eine jüdische Identität hatte und seine Handlungen als Förderung jüdischer Interessen sah.
Wird die Behauptung, daß Marx sein jüdisches Erbe ablehnte, durch die Beweislage gestützt? In seinem Brief an seinen Onkel Lion Philip erwähnte Marx „unser Rassemitglied Benjamin Disraeli“, einen Juden, den er persönlich verabscheute.[i] In einem anderen Brief an denselben jüdischen Verwandten schrieb er:
„Seit Darwin demonstrierte, daß wir alle von den Affen abstammen, gibt es kaum noch IRGENDEINEN SCHOCK, der ‚unseren Stolz auf die Vorfahren‘ erschüttern könnte. Daß der Pentateuch erst nach der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft fabriziert wurde, war bereits von Spinoza in seinem Tractatus theologico-politicus aufgezeigt worden.“[ii]
Dies sind nicht die einzigen Bezugnahmen von Marx auf seine ethnisch jüdische Herkunft. Hier weist er darauf hin, daß er von den preußischen Behörden als Jude betrachtet wurde:
„Hinsichtlich des Kölner Kommunistenprozesses von 1851 – in dem die preußische Regierung die Existenz einer um Marx organisierten Verschwörung zu beweisen suchte – schrieb er: ‚Die Judenhatz steigert natürlich den Enthusiasmus und das Interesse.‘“[iii]
Marx sympathisierte auch mit der Notlage von Juden überall auf der Welt. Zum Beispiel war er empört über die schlechte Behandlung von Juden in Palästina durch die Osmanen. In einem Artikel von 1854 für die New-York Herald Tribune schrieb er: „Nichts kommt dem Elend und den Leiden der Juden in Jerusalem gleich, die das schmutzigste Viertel der Stadt bewohnen… die ständigen Objekte muselmanischer Unterdrückung und Intoleranz, beleidigt durch die Griechen, verfolgt von den Lateinern, und nur von den kärglichen Almosen lebend, die von ihren europäischen Brüdern geschickt werden.“[iv]
Marx‘ starkes Gefühl jüdischer Gruppenidentität motivierten ihn, Mitgliedern seiner eigenen Rasse zu helfen, selbst auf Kosten der kollektiven Interessen der europäischen Mehrheit an der Beibehaltung des Christentums als Staatsreligion. 1843 schrieb Marx an Arnold Ruge:
„Gerade eben hat der Präsident der Israeliten hier mich besucht und mich gebeten, mit einer parlamentarischen Petition im Namen der Juden zu helfen, und ich willigte ein. Wie widerlich ich die israelitischen Glaubensinhalte auch finde, erscheint Bauers Ansicht mir dennoch als zu abstrakt. Es geht darum, so viele Löcher wie möglich in den christlichen Staat zu stanzen und rationale Ansichten einzuschmuggeln soweit wir können.“[v]
Wie andere jüdische Ethno-Aktivisten suchte Marx die europäische ethnische Identität durch Förderung der jüdischen Emanzipation zu zerstören. Seine Agenda war, „so viele Löcher wie möglich“ in die mehrheitlich weißen und christlichen Staaten Europas zu stanzen und ihre ethnische und religiöse Geschlossenheit und politische Stabilität zu untergraben – und dadurch eine Umwelt zu schaffen, in der Juden ihre eigenen kollektiven Interessen ohne Furcht vor Verfolgung betreiben konnten. Obwohl Marx die „israelitischen Glaubensinhalte“ verachtete, identifizierte er sich dennoch als ethnischer Jude. Trotz seiner Konvertierung zum lutherischen Protestantismus in der Kindheit sollte die Jüdischkeit für den Rest seines Lebens ein zentraler Bestandteil von Marx‘ Identität bleiben.
Marx verbarg seine jüdische Identität nie. Wie bei vielen sich stark als solche identifizierenden Juden in der Gegenwart bedeutet die Tatsache, daß Marx kein praktizierender Jude war, nicht, daß er keine starke jüdische Identifikation hatte. Sogar sein persönlicher Shabbosgoy und langjähriger Mitarbeiter Friedrich Engels bestritt nie, daß Marx ein „Vollblutjude“ war. Es gibt keinen Beweis dafür, daß er jemals von irgendeinem krankhaften jüdischen Selbsthass befallen war, angesichts seiner Bereitwilligkeit, mit anderen Juden zu sympathisieren und ihnen sogar in Notzeiten zu Hilfe zu kommen.
Förderte Marx irgendwelche antijüdischen Ansichten? Erstens begehen diejenigen, die Marx einen Antisemiten avant la lettre (d. h., bevor der Begriff entstanden war) nennen, den Trugschluß des Anachronismus. Laut Hal Draper projizieren Historiker, die Marx des Antisemitismus beschuldigen, „sich als Undercover-Agenten der Anti-Defamation League in der Geschichte zurück.“ Er fährt fort:
„Hauptsächlich wird die Anschuldigung untermauert, indem man die Einstellungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Sprache der 1840er hineinliest. Außerdem wird sie nur untermauert, wenn der gesamte Verlauf der deutschen und europäischen antijüdischen Einstellung weißgewaschen wird, um Marx‘ Essay als schwarzen Fleck hervorstechen zu lassen.“[vi]
Marx des Antisemitismus zu beschuldigen, ignoriert, daß Juden in Deutschland vor der Reichseinigung nicht als Mitglieder der jüdischen Rasse diskriminiert wurden. Wenn Juden den bürgerlichen und rechtlichen Einschränkungen entkommen wollten, mit denen sie es in weißen Gesellschaften zu tun hatten, konnten sie immer zum Christentum konvertieren. Marx‘ Antijudaismus sollte nicht mit dem rassischen Antisemitismus von Houston Stuart Chamberlain und Georges Vacher de Lapouge verwechselt werden. Er konnte das jüdische Volkstum nie verdammen, weil das seine Forderungen nach jüdischer Emanzipation in europäischen Gesellschaften unsinnig gemacht hätte. Die Erklärung, die am besten zur Beweislage paßt, ist, daß Marx‘ Antijudaismus von einer tiefsitzenden Feindseligkeit gegen Religion im Allgemeinen motiviert war.
Wir werden diese Vorbehalte beiseite lassen, um uns mit dem Vorwurf zu befassen, daß Marx ein Antisemit avant la lettre war. Stellen Marx‘ abfällige Kritiken an Lassalle als „jüdischen Nigger“, „Jid“ etc. einen prima-facie-Beweis für Antisemitismus dar? Robert Fine und Philip Spencer schreiben:
„Marx wird beschuldigt, in seiner privaten Korrespondenz mit Engels rassistische und antisemitische Schimpfwörter zu verwenden. […] Wenn wir seine private Korrespondenz lesen, mögen wir Marx schlechten Geschmack vorwerfen oder über seinen bissigen Witz schmunzeln, aber es gibt keinen Beweis dafür, daß er etwas anderes als Verachtung für Lassalles Glauben an die Physiognomie hegte und für das autoritäre und illiberale Konzept des Sozialismus, wovon dies ein Teil war. Marx machte sich eindeutig über seinen sozialistischen Gegner lustig.“[vii]
Für Marx bot Lassalle sich ihm als leichtes Ziel für Spott, weil es ein für Juden vorbehaltenes binäres Klassifikationsschema gab. Es gab „gute Juden“, d. h., die von osmanischen Behörden verfolgten palästinensischen Juden, jüdische Proletarier, jüdische Sozialisten etc., die respektvoll behandelt wurden, und „schlechte Juden“, die geldgeilen jüdischen Sozialisten und Kapitalisten, die die schlimmsten Züge der bourgeoisen Industriegesellschaft verkörperten. Wenn Marx Lassalle als Ziel für Schmähungen sah, dann weil er ein „schlechter Jude“ war, ein jüdischer „Emporkömmling“, der „seine Geldsäcke zur Schau stellte.“ Es gibt solche Leute.
Wenn man Marx des Antisemitismus avant la lettre beschuldigt, muß der historische Kontext immer berücksichtigt werden. Wenn Marx irgendeiner Sache schuldig war, dann der ungehemmten Vulgarität in privaten Momenten mit Freunden und Familienmitgliedern, aber er war kein Antisemit avant la lettre, und sicherlich nicht nach den Maßstäben der Zeit. Er stereotypisierte Juden negativ, aber dies ist nicht antisemitisch, wenn es auf gut untermauerten Tatsachen beruht. Außerdem gibt es, wenn Antisemitismus als irrationaler Hass auf Juden wegen ihrer ethnischen Gruppenzugehörigkeit gibt, keine Spur von ethnorassischem Hass in irgendeiner von Marx‘ Schriften. Er sagte oder tat nichts für die Zeit Ungewöhnliches, außer daß er den antireligiösen Werten der Aufklärung fest verbunden war. Zum Beispiel erlaubte Marx dem französischen Quarteronen [Viertelneger, d. Ü.] Paul Lafargue, seine Tochter Laura zu heiraten. In einem Brief an das interrassische Paar kritisierte er den Rassetheoretiker Comte de Gobineau: „Ich vermute vielmehr, daß M. de Gobineau, dans ce temps là ‘premier secrétaire de la légation de France en Suisse‘, selbst nicht von einem alten fränkischen Krieger abstammt, sondern von einem modernen französischen huissier.“[viii] In schlichter Übersetzung sagt Marx, daß der Glaube an die weiße rassische Überlegenheit die Provinz der Mittelmäßigen ist, eine ungewöhnliche Einstellung für die Zeit, in der er lebte.
Es gibt immer noch das Thema des Stereotypisierens von Juden, das in „Zur Judenfrage“ vorkommt. Manche Kritiker haben argumentiert, daß der Essay, weit davon entfernt, ein „jugendliches Stück Hegelianisierens“ zu sein, „aus dem der reife Marx später herauswuchs“, in Wirklichkeit heftig antisemitisch ist. Der jüdische akademische ethnische Aktivist Robert S. Wistrich warnt:
„Marx‘ unnachgiebige Feindseligkeit gegenüber Religion sollte einen jedoch nicht zu der naiven Annahme verleiten, daß die Unsicherheit seiner eigenen Herkunft oder das Gewicht seines jüdisch-rabbinischen Erbes nichts zur Formung des intellektuellen und moralischen Charakters seiner Sichtweise beitrug.“ (1974)
Der Vorwurf des Antisemitismus avant la lettre beruht auf einer oberflächlichen und doch tendenziösen Lesung, angesichts des Ziels von Marx‘ Kritik. Um zu verstehen, warum das so ist, untersuchen wir genau den Text von „Zur Judenfrage“, der in zwei Teile unterteilt ist.
Im ersten Teil dröselt Marx den Glauben des deutschen Philosophen Bruno Bauer auf, daß Juden nicht als Juden emanzipiert werden können, solange sie Mitglieder des Auserwählten Volkes bleiben. Wenn das Judentum die politische Emanzipation will, muß es zuerst auf die politische Emanzipation Deutschlands hinarbeiten, nicht als Juden, sondern als Deutsche. Marx zeigt, daß das nicht funktionieren kann: im angelsächsischen Nordamerika behalten die Menschen ihre Religion trotz politischer Stimmberechtigung. Die Emanzipation des Staates von der Religion verbannt diese bloß in die Privatsphäre, ohne die Neigung des Menschen zu Religiosität abzuschaffen. In anderen Worten, dies ist ein Appell, daß Juden die Freiheit haben sollten, ihre Religion und ihren Status als von den Deutschen separates Volk zu behalten.
Der politisch emanzipierte Staat, die atheistische Demokratie, sagt Marx, ist der „perfekte christliche Staat“. Weil die politische Emanzipation die Trennung von Kirche und Staat nach sich zieht, widerspricht sie nicht länger den Evangelien, deren Botschaft „die übernatürliche Selbstentsagung, die Unterwerfung unter die Autorität der Offenbarung“ ist und „eine Abwendung vom Staat“. Das individuelle „religiöse und theologische Bewußtsein“ wird wegen der politischen Stimmberechtigung erhöht. Die christliche Mehrheit wird eine authentisch christliche, weil das Christentum, das sie sich zu eigen macht, ohne „politische Bedeutung“ und „weltliche Ziele“ ist, genau wie Christus es in den Evangelien geboten hatte. Dies zeigt, daß die politische Emanzipation des Staates von der Religion in Wirklichkeit nach hinten losgeht, weil sie die Religiosität des Menschen steigert.
Durch politische Emanzipation werden dem Bürger bestimmte demokratische Rechte oder „Menschenrechte“ gewährt, aber diese steigern auch die Religiösität des Menschen, indem sie ihm religiöse Freiheit statt Freiheit von Religion bieten, die menschliche Emanzipation erfordert. Diese demokratischen Rechte haben andere inhärente Beschränkungen. In der Theorie „erklärt das politische Leben sich zu einem bloßen Mittel, dessen Zweck das Leben der Zivilgesellschaft ist“. In anderen Worten, politische Institutionen emanzipieren den Bürger, indem sie ihm unveräußerliche Rechte gewähren; jedoch ist dies nicht das, was man in der Praxis beobachtet. Das Recht auf Pressefreiheit ist bourgeoisen Rechten, d. h., „Menschenrechten“, völlig untergeordnet, was das politische Leben als das Ziel der Zivilgesellschaft etabliert statt umgekehrt. Paradoxerweise für Marx ist die dem Bürger in Form von Rechten gewährte politische Emanzipation gleichzeitig die Verneinung dieser Rechte:
„Wer immer es zu unternehmen wagt, die Institutionen eines Volkes zu begründen, muß sich dazu fähig fühlen, die menschliche Natur zu ändern, jedes Individuum, das für sich ein vollständiges und solitäres Ganzes ist, in einen Teil des größeren Ganzen zu verwandeln, von dem das Individuum in gewissem Sinne sein Leben und sein Sein bekommt, die physische und unabhängige Existenz durch eine beschränkte und geistige Existenz zu ersetzen. Er muß dem Menschen seine eigenen Kräfte nehmen und ihm im Austausch fremde Kräfte geben, die er nicht ohne die Hilfe anderer Menschen einsetzen kann.“[ix]
Die politische Emanzipation ist schimärenhaft, weil sie den Menschen zu einer Abstraktion reduziert. Indem sie die Kräfte des Menschen durch „fremde Kräfte“ ersetzt, reduziert die politische Emanzipation „den Menschen einerseits zu einem Mitglied der Zivilgesellschaft, zu einem egoistischen, unabhängigen Individuum, und andererseits zu einem Bürger, einer juristischen Person.“ Um sich voll zu emanzipieren, muß der Mensch seine „eigenen Kräfte“ zurückerlangen. In Herausforderung der Vorherrschaft der Abstraktion kombiniert er seine individuellen und juridischen Rollen, um seine Individualität in maximalem Ausmaß zu entwickeln, und schafft eine Gesellschaft, die um sein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung organisiert ist. Dies ist die menschliche Emanzipation, die den egoistischen Menschen von seinem religiösen Bewußtsein befreit, sodaß er, in Marx‘ abstrusem hegelianischen Jargon, „ein Spezies-Wesen in seinem alltäglichen Leben“ wird. Dies bedeutet „die Fähigkeit menschlicher Wesen, die materielle Welt frei in Übereinstimmung mit einem bewußt angenommenen Plan zu gestalten, der die wesentlichen Bedingungen für menschliche Erfüllung bietet“ (Wartenberg, 1982).
Soweit ist daran nichts offen oder auch nur indirekt Antisemitisches. Tatsächlich könnte es gut sein, daß ein Staat ohne offizielle Religion, wo Juden ihre Gruppenbindung behalten könnten und die Freiheit zum Streben nach Selbstverwirklichung hätten, ein ideales Vehikel für die Verwirklichung jüdischer Interessen wäre – was natürlich genau das ist, was dann geschah.
Was ist mit dem zweiten Teil? Marx beginnt, indem er Otto Bauer widerspricht, daß die Judenfrage zwangsläufig eine theologische ist:
„Betrachten wir den tatsächlichen, weltlichen Juden – nicht den Sabbat-Juden, wie es Bauer tut, sondern den alltäglichen Juden. Suchen wir nach dem Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir im wirklichen Juden nach dem Geheimnis seiner Religion.“[x]
Angesichts von Marx‘ Herangehensweise ist es keine Überraschung, daß er den empirischen Judaismus mit monetärem Austausch und Hausiererei identifiziert. Dies ist kein bloßer „ökonomischer Reduktionismus“, sondern eine gut belegte historische Tatsache:
„Julius Carlebach verzeichnet, daß zu der Zeit von Marx‘ Schriften von 1843 Kleinhändler und Wandergewerbetreibende 66 % der jüdischen arbeitenden Bevölkerung in Preußen und der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in Osteuropa ausmachten. Marx anerkannte die historische Rolle mancher Juden in Handel und Geldverleih in vormodernen Gesellschaften, sah sie aber durch systematischere Prozesse nationaler Kapitalanhäufung ersetzt.“[xi]
Warum wird eine empirische Tatsache über ethnorassische Unterschiede in der kommerziellen Aktivität als etwas Antisemitisches konstruiert? Marx war nicht der einzige Jude, der diese Einstellungen teilte. Moses Hess, einer der Gründerväter des modernen Zionismus, bezeichnete die Juden als „Raubtiere“, die eine „Krämerwelt“ bewohnten. Heinrich Heine, der jüdische Dichter, sagte, Israel sei nicht für seine Liberalität bekannt, „außer wenn ihm mit Gewalt die Zähne gezogen werden.“[xii] Und doch würde niemand jemals daran denken, Hess oder Heine des Antisemitismus zu zeihen.
Marx fährt fort:
„Wir erkennen daher im Judentum ein allgemeines antisoziales Element der Gegenwart, ein Element, das durch historische Entwicklung – zu der die Juden in dieser schädlichen Hinsicht eifrig beigetragen haben – auf seinen gegenwärtigen hohen Stand gebracht worden ist, an dem es sich zwangsläufig aufzulösen beginnen muß.“[xiii]
Während ein Antisemit avant la lettre behauptet hätte, daß Juden die volle Verantwortung für ihr „antisoziales“ Verhalten tragen – sogar verdienen, dafür bestraft zu werden -, tut Marx die Ruchlosigkeit des empirischen Judaismus als Produkt der „historischen Entwicklung“ ab, was sich auf Standardthemen der zeitgenössischen jüdischen Rechtfertigung beziehen könnte, wie daß Juden gezwungen worden seien, Geldverleiher zu sein. Die „antisoziale Natur“ des Judaismus bezieht sich auf die jüdische Überrepräsentation in Finanzberufen sowie in den damit verbundenen Übeln. Zum Beispiel wurden Juden von preußischen Junkern als Geldverleiher und Finanziers engagiert; als sie diese Berufe zu dominieren begannen, erregte ihre kommerzielle Unmoral den Hass der Landbevölkerung. Indem er dies als das Ergebnis des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus durch die mysteriösen inneren Mechanismen der historischen Dialektik wegerklärte, sprach Marx die Juden von ihrem zerstörerischen Verhalten frei. Falls überhaupt etwas, seien die Juden Opfer des Schicksals, trotzdem sie zu ihren eigenen Leiden „eifrig beigetragen“ haben. Falls jüdisches Verhalten historisch bedingt ist, ist der empirische jüdische Charakter nicht in Stein gemeißelt, sondern zur Veränderung fähig. Weit davon entfernt, antisemitisch zu sein, betätigt Marx sich in pro-jüdischer Polemik.
Marx sagt, der Judaismus beruhe auf praktischem Bedürfnis und Eigeninteresse. Der Gott des Alten Testaments ist die Idealisierung „des Wechsels“, der „der wahre Gott des Juden ist“. Marx‘ Analyse des empirischen Judaismus gilt auch für die Zivilgesellschaft allgemein: „Das praktische Bedürfnis, der Egoismus, ist das Prinzip der Zivilgesellschaft, und erscheint daher in reiner Form, sobald die Zivilgesellschaft voll den politischen Staat geboren hat. Der Gott des praktischen Bedürfnisses und des Eigeninteresses ist das Geld.“ Wenn der Wechsel der „wahre Gott des Juden“ ist, dann ist er auch der „wahre Gott“ der christlichen Zivilgesellschaft, nachdem auch sie im praktischen Bedürfnis und Egoismus begründet ist. Die Zivilgesellschaft ist trotz ihres christlichen Charakters in Wirklichkeit eine jüdische Gesellschaft, wo „Geld die entfremdete Essenz der Arbeit und Existenz des Menschen ist, und diese fremde Essenz beherrscht ihn, und er betet sie an.“[xiv]
Manche haben den zweiten Teil von Marx‘ Essay als heftig antisemitisch verurteilt. Jedoch ist es offensichtlich, daß Marx nicht die Juden angreift, sondern das gesamte bourgeoise kapitalistische System. Dabei dient der empirische Jude als Stellvertreter für die kapitalistischen Wirtschaftsinteressen der Bourgeoisie. Der empirische Judaismus wird auf den Kopf gestellt, um aufzuzeigen, was die Zivilgesellschaft und ihre Mitglieder geworden sind, eine Gesellschaft von Geldmenschen, die am Altar eines Geldgottes beten, d. h., das bourgeoise kapitalistische System. Wenn die Zivilgesellschaft und der Judaismus dieselbe materielle Grundlage gemeinsam haben, dann sind Preußen genauso jüdisch wie die Juden, wenn sie nicht selbst Juden sind. Der empirische Judaismus ist die christliche Zivilgesellschaft im Mikrokosmos, nachdem die „wahre Natur des Juden universal erkannt und säkularisiert worden ist.“ Marx sagt sogar:
„Das Christentum entsprang dem Judaismus. Es ist wieder mit dem Judaismus verschmolzen. Von Anfang an war der Christ der theoretisierende Jude; der Jude ist daher der praktische Christ, und der praktische Christ ist wieder ein Jude geworden.“[xv]
Nachdem Marx die Rhetorik der Judenfrage umgedreht hat, um die bourgeois-kapitalistische Gesellschaft zu kritisieren, gibt es keine Judenfrage mehr, sondern eine christliche oder bourgeois-kapitalistische Frage.
Der empirische Judaismus, Marx: Metapher für kapitalistische Wirtschaftsaktivität, erreichte den Höhepunkt seiner Entwicklung unter christlicher Hegemonie und beherrschte schließlich die Christenheit. Die nichtjüdische Zivilgesellschaft verkörpert nun die Natur des empirischen Juden. Das Christentum hat nun die Speziesbindungen des Menschen (seine Bindungen an die breitere Gemeinschaft) durch Egoismus und Selbstsucht ersetzt: es „löst die menschliche Welt in eine Welt atomistischer Individuen auf, die einander feindlich gegenüberstehen.“ Die bourgeoise „revolutionäre Bilderstürmerei“ des christlichen Weltsystems zerstört „alle Besonderheiten – Eigentum, Kultur, Familie, Ehe, Kindheit, Erziehung, Land, Religion, Moral, Beruf, persönlicher Wert“, indem es sie „auf eine Geldbeziehung“ reduziert.“[xvi] In Marx‘ Sicht verdrängt das Christentum den Judaismus, indem es wie der Judaismus wird, aber dabei ist es zur zerstörerischsten Kraft der Welt geworden.
Sobald die „Emanzipation der Gesellschaft vom Judaismus“ stattgefunden hat, „wird der Jude unmöglich geworden sein.“ Dies bedeutet nicht die Ausrottung des Juden und auch nicht die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft, wie manche hysterische Kritiker unterstellt haben, wie Dagobert D. Runes‘ Ausgabe von Marx‘ On the Jewish Question, veröffentlicht als A World Without Jews für Propagandazwecke im Kalten Krieg.
Der Jude wird natürlich biologisch weiterexistieren, als Zweig der semitischen Rasse. Obwohl er selten über Rasse schrieb, anerkannte Karl Marx die Realität der jüdischen rassischen Identität; in einem Brief an seinen Onkel identifizierte er sich als von derselben jüdischen Rasse wie Disraeli. Er spottete in seinen Briefen und Schriften über charakteristisch jüdische Rassemerkmale. Im Fall von Joseph Moses Levy, eines britischen Zeitungsverlegers, bemerkte Marx: „Mutter Natur hat seine Herkunft in deutlichstmöglicher Weise mitten in sein Gesicht geschrieben.“[xvii] Manche Juden hatten sogar etwas, das Marx als eine „widerlich jüdische Physiognomie“ beschrieb.[xviii]
Die Zusammenfassung der jüdischen Gesellschaft mit der protestantischen Zivilgesellschaft dient als literarisches Mittel, das es Marx ermöglicht, die jüdische Emanzipation und die „Emanzipation der Menschheit vom Judaismus“ zu fordern, das heißt, die Befreiung der gesamten Menschheit vom unterdrückerischen kapitalistischen Wirtschaftssystem. Trotz seiner scheinbar „antijüdischen“ Ansichten ist Marx‘ Vorstellung von der Rolle des Judaismus eine positive: „Aber das Paradox ist, daß der Judaismus für Marx genau deshalb die Grundlage für die Befreiung der modernen Gesellschaft bot, weil es die Emanzipation von Feilschen und Geld war, die menschliche Wesen befreien würde.“[xix]
Wenn Marx ein echter Antisemit avant la lettre gewesen wäre, warum hätte er dann die politische Emanzipation der Juden in Deutschland gefordert? Wenn er ein echter Antisemit gewesen wäre, hätte er viel schlimmer als der post-Kant’sche Philosoph Jakob Friedrich Fries geklungen, der einem wirklichen deutschen Antisemiten avant la lettre des neunzehnten Jahrhunderts am nächsten kommt:
„In einem Pamphlet mit dem Titel Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden behauptete Fries, daß der durch Juden verursachte Schaden ein solcher sei, daß ihnen verboten werden sollte, ihre eigenen Bildungsinstitute zu gründen, Weiße zu heiraten, Christen als Diener anzustellen oder nach Deutschland einzureisen, daß sie gezwungen werden sollten, ein besonderes Zeichen an ihrer Kleidung zu tragen und daß ihnen nahegelegt werden sollte, auszuwandern. Fries‘ Darstellung der Juden als Feind des Volkes war gepaart mit der revolutionären Überzeugung, daß alles politische Leben ausschließlich vom Volk abgeleitet sein muß, einer Kategorie, von der die Juden ausgeschlossen waren.“[xx]
Marx klingt überhaupt nicht wie Fries, der Juden typischerweise als „Blutsauger“ und „Schmarotzer“ bezeichnete. Er war nicht einmal beiläufig antisemitisch, andernfalls seine Schriften und Briefe voll von antisemitischen Verunglimpfungen gewesen wären; stattdessen gibt es nichts auch nur entfernt Antisemitisches in irgendeiner von Marx‘ Schriften. Dies macht den Vorwurf des Antisemitismus avant la lettre zu einem lachhaften. Durch seine „eindeutige und bedingungslose“ Verteidigung der jüdischen Emanzipation verteidigt Marx das „subjektive Recht von Juden, Bürger zu sein, Juden zu sein und kreativ und einzigartig in ihrer eigenen Weise mit ihrer jüdischen Herkunft umzugehen.“[xxi]
Warum manche Autoren Marx als antisemitisch betrachten, ist mysteriös. Marx ist in Wirklichkeit pro-semitisch, weshalb er auch für die totale Emanzipation des Juden in Deutschland argumentiert, der buchstäblich keine bürgerlichen und politischen Rechte hatte. Obwohl er immer mitfühlend gegenüber jüdischem Leiden ist, verachtet Marx den Judaismus als Religion und als Anzahl von Wirtschaftspraktiken. Er verachtet nicht die jüdische ethnische Identität, die vom religiösen Bewußtsein emanzipiert werden kann und werden wird. Der zweite Teil ist das, was üblicherweise als antisemitisch interpretiert wird, aber diese Interpretation beruht auf einer oberflächlichen und tendenziösen Lesung der Passage. Die Wahrheit ist, daß Marx‘ Schriften nicht für ihre Klarheit und Sprachökonomie bekannt waren. Er stützte sich auf ein esoterisches „Hegelisieren“, um sein Argument rüberzubringen, was seither viele seiner Kritiker verwirrt hat. Fine schließt: „Marx‘ frühe Essays über die Judenfrage leiteten in Wirklichkeit eine lebenslange Kritik am Antisemitismus ein. Sie zeigten, daß die Perspektive der Judenfrage keine Unvermeidlichkeit ist; daß sie überwunden werden kann. Marx‘ Essays bleiben bei all ihren Unklarheiten eine Schlüsselquelle für die Zurückgewinnung einer Tradition des kritischen Denkens, die „linken Antisemitismus“ zurückweist.“[xxii]
Weit davon entfernt, antisemitisch zu sein, war Marx ein „Kind der Aufklärung, das darum kämpfte, die Aufklärung von ihren eigenen antijüdischen Vorurteilen zu emanzipieren.“[xxiii] Marx‘ „Zur Judenfrage“ ist in Wirklichkeit ein Schlüsseldokument im Kampf um die jüdische Emanzipation auf Kosten der europäischen Mehrheiten. Kritiker, die Marx als Antisemiten abtun, haben die Beweise nicht sorgfältig betrachtet.
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[1] Siehe, z. B. Nathan Cofnas (2018).
[i] Karl Marx an Lion Philips in Zalt-Bommel, 29. November 1864. https://marxists.catbull.com/archive/marx/works/1864/letters/64_11_29b.htm
[ii] Karl Marx und Friedrich Engels, MECW, Vol. 41, S. 542.
[iii] Jerrold Seigel, Marx’s Fate, S.114.
[iv] Karl Marx. „Declaration of War. — On the History of the Eastern Question.” New-York Daily Tribune, 15. April 1854. https://www.marxists.org/archive/marx/works/1854/03/28.htm
[v] Karl Marx. Early Texts, S. 60.
[vi] Hal Draper, Karl Marx’s Theory of Revolution, Vol.1, S. 591.
[vii] Robert Fine und Philip Spencer. Antisemitism and the left, S. 32.
[viii] Marx an Paul und Laura Lafargue, 5. März 1870. https://www.koorosh-modaresi.com/MarxEngels/V43.pdf
[ix] Karl Marx. „On The Jewish Question by Karl Marx.” Marxists.org, 2019, https://www.marxists.org/archive/marx/works/1844/jewish-question/.
[xi] Robert Fine und Philip Spencer. Antisemitism and the left, S. 42.
[xii] Gary Ruchwarger. Marx and the Jewish question. https://www.marxists.org/subject/jewish/ruchwarger-jewish-question.pdf
[xiii] Karl Marx. „On The Jewish Question by Karl Marx.” Marxists.org, 2019, https://www.marxists.org/archive/marx/works/1844/jewish-question/.
[xvii] Karl Marx. Herr Vogt. https://marxengels.public-archive.net/en/ME1916en.html
[xviii] Karl Marx an Antoinette Philips, 24. März 1861. MECW, Vol. 41, S. 163.
[xix] Gary Ruchwarger. Marx and the Jewish question. https://www.marxists.org/subject/jewish/ruchwarger-jewish-question.pdf
[xx] Robert Fine und Philip Spencer. Antisemitism and the left, S. 30-1.